Silhouetten von Menschenköpfen Silhouetten von Menschenköpfen
Neurodivergente Menschen haben im Vergleich zu Menschen mit neurotypischen Gehirnen oft unterschiedliche Wahrnehmungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse. (Symbolbild)

Noch haben wir die Diskussionen um Diversity und Inclusion nicht ganz integriert, schon schleicht sich ein neuer Fokus in die gesellschaftliche Diskussion und die Medien ein. Die Rede ist von Neurodivergenz. Deren bekannteste neuronale Ausprägungen sind wohl das Autismus-Spektrum inkl. Asperger-Syndrom und AD(H)S. Nebenbei bemerkt gehören auch Dyskalkulie, Dyslexie, Legasthenie oder Hochsensitivität zu Formen von Neurodivergenzen. In der Schule scheint das Thema bereits weitgehend angekommen zu sein. Auf besondere Bedürfnisse von Kindern wird eingegangen, beispielsweise durch konkrete Förderung oder Ansprüche wie Nachteilsausgleich. Aber wie sieht es bei Erwachsenen und vor allem in der der Arbeitswelt aus?

Neurodivergenzen sind häufiger als angenommen

Vor kurzen war ich bei einem fachlichen Workshop. Bei der Vorstellungsrunde schloss der junge Mann mit der Brille links von mir mit der Anmerkung: «Und ich habe Asberger, bei Gruppenübungen vermeide ich manchmal Blickkontakt.» Die blonde Frau mir schräg gegenüber gab den Hinweis, sie habe ADHS und stehe deshalb manchmal bei längeren Beiträgen auf, um sich zu bewegen – nur damit wir uns nicht wunderten.

Spannend wie die Besonderheiten von den Teilnehmenden in der Gruppe plötzlich sichtbar wurden. Sicherlich lag dies daran, dass die Kursleiterin explizit in der Einladung dazu aufgerufen hatte, allfällige Neurodivergenzen und damit verbundene Eigenschaften und Bedürfnisse zu benennen. So war sie imstande, die Rahmenbedingungen für den Workshop so zu gestalten, dass alle Teilnehmenden sich bestmöglich einbringen und wohlfühlen konnten. Diese transparente Kommunikation brachte für alle Teilnehmenden natürlich auch eine Aufforderung mit sich, mit den Informationen verantwortungsvoll umzugehen.

Noch sind die Themen um Neurodivergenz in der Gesellschaft und Öffentlichkeit teilweise mit Unsicherheit oder Unverständnis verbunden. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die beiden Personen, die sich offen in der Gruppe äusserten, noch keine 30 Jahre alt waren. Besonders jüngere Generationen gehen nachweislich sehr offen mit ihren Besonderheiten um, wie beispielsweise zahlreiche persönliche Statements zum Thema in den sozialen Medien zeigen.

Statistisch gesehen, war die Runde bei meinem Workshop halbwegs repräsentativ. Nach Studien haben 15 bis 20 Prozent aller Menschen eine neurodivergente Ausprägung. Die Forschung zur Neurodivergenz bei Erwachsenen ist noch nicht weit fortgeschritten. Somit existieren auch kaum wissenschaftsbasierte Konzepte für die Arbeitswelt. Trotzdem müssen wir uns bei der Häufigkeit in der Neurodivergenzen vertreten sind, Gedanken machen: Was bedeutet dieser Aspekt speziell für die Arbeitswelt: für Personalberater, für HR, für Führungskräfte, für Teams?

Neurodivergenz und verwandte Begrifflichkeiten

Da Trendthemen häufig auch emotional diskutiert werden, lohnt es sich sicherlich, sich mit den Begrifflichkeiten auseinander zu setzen. Je klarer das Verständnis ist, desto differenzierter kann die Auseinandersetzung in der darauffolgenden Diskussion sein.

  •  «Neurodivergenz (oder neuroatypisch)» beschreibt sensorische und neurologisch-biologische Funktionsweisen des Gehirns und des Nervensystems, die von der allgemeinen Mehrheit abweichen. Neurodivergente Menschen haben oft unterschiedliche Wahrnehmungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse als Menschen mit neurotypischen Gehirnen. Nicht selten haben Personen mehr als eine neurologische Abweichung. Neurodivergenz kann mit einer medizinischen Diagnose verbunden sein. Dabei gibt es natürlich fliessende Übergänge im Sinne des Spektrum-Verständnisses. Viele Menschen sind sich vermutlich nicht bewusst, dass man sie als neurodivergent einordnen könnte.
  • Als «neurotypisch / neurologisch typisch» wird die Zugehörigkeit zu einem Normbereich (mit der üblichen Normabweichung) verstanden bezüglich Nerven- und Gehirnfunktionen. Neurotypizität beschreibt somit das neurologische Profil, das als typisch für eine Mehrheit angesehen wird. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive wird der Begriff kritisiert, denn es gibt kein Gehirn, welches einem Standard-Bauplan folgt.
  • «Neurodiversität / neurologische Diversität» ist ein soziologischer Überbegriff (geprägt von Judy Singer), welcher Menschen mit einer Vielfalt von unterschiedlichen neurologischen Ausprägungen beschreibt. Beim heutigen Verständnis von einzigartigen Individuen kann eine Unterteilung in neurotypische und neurodivergente Menschen kaum deutlich erfolgen. Damit will der Begriff somit eher verbinden als trennen. Neurodivers kann übrigens - grammatikalisch korrekt - nur eine Gruppe (aus Personen mit neurologsicher Vielfalt) sein, keine Einzelpersonen.
Regenbogenfarbige Endlosschleife
Abb. : Ein regenbogenfarbenes Unendlichkeitszeichen ist das Symbol der Neurodiversitätsbewegung. (Bild: Public Domain)

Neurowissenschaftler:innen gehen übrigens davon aus, dass Neurodiversität in Gruppen, evolutionsbiologisch Sinn macht, weil die Vielfalt sensorischer und kognitiver Eigenschaften das Überleben von Stämmen sicherstellen sollten.

Personen auf dem neurodivergenten Spektrum haben teilweise Schwierigkeiten, Kommunikationsaussagen zu erkennen, sich in vorgegebenen Strukturen zu integrieren oder sind schnell reizüberflutet. Jede Schwäche bringt auch Stärken mit sich. Neurodivergente Menschen können beispielsweise punkten mit klarer Kommunikation, Kreativität und Outside-the-Box-Denken oder einer hohen Sensitivität – je nach neurologischer Ausgangslage. Statistiken bestätigen darüber hinaus überdurchschnittlich ausgeprägte Fähigkeiten wie schnelle Auffassungsgabe, vernetztes Denken, Problemlösekompetenz, logisches Denken, Risiko- und Hilfsbereitschaft, Durchhalte- und Begeisterungsfähigkeit von neurodivergenten Menschen. Neuro-Profile mit ihrem Superpower und dem berühmten Hyperfokus galten lange als Geheimwaffe bei Start-ups.

Wichtig ist, Neurodivergenzen nicht zu verallgemeinern und Stereotype oder Klischees in der Diskussion zu vermeiden. Nicht jede Person mit Autismus ist in der IT-Branche gut aufgehoben oder nicht jede:r ADHSler:in in einer Kommunikationsagentur. Auch wird nicht jede neurodivergente Person CEO eines Weltkonzerns oder arbeitet in einem Hochleistungsjob. Grundsätzlich gilt es, jede individuelle Ausgangslage und das Erleben der jeweiligen betroffenen Person mit eigenen Stärken und Bedürfnissen in den Fokus zu nehmen.

Im Folgenden sollen einige Impulse gegeben werden, im klaren Bewusstsein, dass jede neurodivergente Ausprägung im Detail eine differenzierte Betrachtung verdient hätte.

Herausforderungen in der Arbeitswelt

Für alle Menschen kann der Büroalltag manchmal fordernd oder stressig sein. Für neurodivergente Menschen hingegen kann das Arbeiten in einem Umfeld, das häufig von neurotypischen für neurotypische Menschen geschaffen wurde, eine permanente Herausforderung sein:

  • Im Grossraumbüro sitzen oder Menschen, die häufig an einem vorbei gehen, kann störend empfunden werden von Personen, die einen Aufmerksamkeitsüberschuss haben und sehr viel und sich herum wahrnehmen.
  • Eine Fülle von Aufgaben, Informationen und Nachrichten können divergent denkende Personen überfordern. Vor allem wenn diese - wie heute üblich – zeitnah und über verschiedene Kanäle kommen (E-Mail, Intranet, Wikis, Teams Chat, …).
  • Lange Pendenzenlisten können sich wie unbezwingbare Berge anfühlen für Menschen, die Schwierigkeiten mit Priorisieren haben.
  • Eine unklare Ausdrucksweise oder ein uneinheitliches Wording können Menschen irritieren, die stark regel- und musterorientiert sind.
  • Textlastige Dokumente in kurzer Zeit überprüfen zu müssen, kann sehr belastend sein für Personen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten oder für eher bilddenkende Menschen.
  • Das vielzitierte Verlassen der Komfortzone für Entwicklungserfahrungen ist eine noch höhere Hürde als für neurotypische Kolleg:innen. Bei neurodivergenten Personen kann jeder «normale» Tag den Wohlfühlbereich überstrapazieren. 
  • Auch soziale Situationen können als anstrengend empfunden werden von Personen, die sensorisch sensibel und schnell überstimuliert sind. (So kann ein vermeintlich entspannter Klatsch in der Kaffeeküche, eine Mittagspause oder auch ein Apéro mit vielen Menschen zum Stress werden).
  • Häufig nehmen neurdivergente Personen eigene Belastungsgrenzen zu wenig wahr und haben ein höheres Risiko für Verausgabung.

Grundsätzlich kann ein Agieren in einem solchen beruflichen Kontext Betroffene ein hohes Mass an Energie kosten und nicht selten einen immensen inneren Druck erzeugen. Ein neurobiologisch besonderes Erleben als «Andersdenkende:r» und «Andersfühlende:r» ist nicht selten mit einem hohen Leidensdruck verbunden. Dieser ist nach aussen nicht immer erkennbar. Gemäss Aussagen von Betroffenen sprechen diese aus Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung oft nicht offen über ihre Neurodivergenzen. Die Folge ist häufig ein sich Anpassen an ein neurotypisches Umfeld und Arbeitsroutinen, die ihnen nicht entsprechen. Dabei wundert es nicht, dass neurodivergente Menschen statistisch eher zu Komorbiditäten (Angststörungen, Depressionen, Burnout, …) neigen. Gleichzeitig finden überdurchschnittlich viele neurodivergente Menschen nicht ihren Platz im klassischen Arbeitsmarkt – womit die Zielgruppe auch eine gesellschaftliche und sozioökonomische Relevanz hat. Grund genug über eine «neuroinklusive Barrierefreiheit in der Arbeitswelt» nachzudenken.

Konkrete Ansätze im Arbeitsumfeld

Im Zeitalter des Fachkräftemangels gewinnen Aspekte von Diversity und Inklusion an Bedeutung. In der Arbeitswelt funktionieren neurodivergente Menschen oft gut, wenn sie ihre individuellen Strategien gefunden haben und ihre Begabungen zielführend einsetzten können. Das unternehmerische Umfeld kann durch weitere Massnahmen «neurogesundes Arbeiten» unterstützen. Konkrete Ansätze können sein:

  • Ermöglichen von störungs- oder reizarmen Arbeitsorten: Rückzugsort, Einzelbüro, Homeoffice etc.
  • Unterstützen bei einer flexiblen Arbeitsgestaltung: Aufgaben, Zeiten etc.
  • Akzeptanz für ein Arbeiten nach individuellem Energie-Level: Neurodivergente Personen sind häufig bereit und fähig, punktuell oder phasenweise sehr viel zu leisten, brauchen dann aber wieder bewusste Phasen der Regeneration.
  • Anbieten von Unterstützung: Welche Aufgaben können sinnvollerweise ausgelagert werden oder wo könnte eine Assistenz unterstützen? 
  • Etablieren einer Kultur, die Sicherheit vermittelt, dass es okay ist nachzufragen – auch mehrmals beispielsweise bei unklaren oder mehrdeutigen Arbeitsaufträgen
  • Anerkennen von unkonventionellen, häufig nicht neurotypischen Strategien im Arbeitskontext
  • Nutzen von Hilfsmitteln oder assistiven Technologien (Text-to-Speech-Apps, Diktierfunktionen, Texterstellung mit KI, visuelle Pläne, etc.)
  • Einsetzen von Hilfsmitteln bei sensorischen Empfindlichkeiten: z.B. Noise-Cancelling- Kopfhörer, Verdunkelungsbrillen, Sichtblenden, schallabsorbierende Materialien
  • Führungskräfte mit Neurodivergenz können sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und offen darüber sprechen

Bei neurodivergenten Menschen ist die vielzitierte psychologische Sicherheit von besonderer Bedeutung. Neurodivergente Menschen haben oft ein intensives inneres Erleben voller Fragen und Zweifel. Damit nimmt die Notwendigkeit von Führungskräften zum Perspektivenwechsel und für Empathie eine besondere Bedeutung ein. Neurodivergente Menschen sind häufig sehr feinfühlig, und spüren gut, ob Menschen sich authentisch verhalten oder Aussagen ernst gemeint sind. Mit ihrem feinen Sensorium fungieren Sie auch oft als «Frühwarnsystem» in Organisationen.

Neurodiversität – Vielfalt durch Partizipation

Unternehmen sollten daran interessiert sein, dass ein Klima für Neurodiversität herrscht. Alle Mitarbeitende, unabhängig ihrer neurologischen Ausgangslage sollen sich bestmöglich einbringen und partizipieren können.

Beim anfangs erwähnten Workshop beispielsweise gab es zum Schluss diverse Optionen, Feedback zu geben, je nach Präferenz: mittels bunten Stiften auf einer Wandtafel, im Austausch mit anderen Teilnehmenden, in einer ruhigen Ecke mittels eines strukturierten Fragebogens via QR Code oder ganz am Schluss mündlich direkt an die Kursleitung. So war für (die meisten) Bedürfnisse gesorgt. Natürlich war die Vorbereitung des Workshops für die Kursleitung anspruchsvoll – aber viele individuelle Präferenzen wurden berücksichtigt und alle konnten sich auf ihre bevorzugte Weise einbringen.

Schluss

Jede fünfte Person hat eine neurodivergente Ausprägung. Damit handelt es sich um eine kritische Menge, die bei der Arbeitsgestaltung und Organisation nicht vergessen werden darf. Gerade bei der Tendenz, produktiv und effizient sein zu müssen, können es sich Unternehmen nicht leisten, das Schaffen von optimalen Rahmenbedingungen für alle Mitarbeitenden zu verpassen. Vorausschauende Unternehmen erkennen dies. Zudem zeigt sich, dass eine neurodiverse Kultur die Mitarbeitendenbindung stärkt.

Ein bewusster Umgang mit Neurodiversität in Unternehmen liefert wertvolle Perspektiven und somit eine höhere Wahrscheinlichkeit, kreative Lösungen oder innovative Ansätze zu finden. Verschiedene (neurologische) Ausgangslagen können neue Sichtweisen in Teams und Organisationen bringen. Vielfalt stärkt Organisationen und macht sie wettbewerbsfähiger. Je transparenter und klarer wir uns austauschen, was jede:r braucht, um optimale Arbeitsleistung zu erbringen, desto besser – nicht nur mit neurodivergenten, sondern mit allen Mitarbeitenden.

Divergenz-Beispiele aus der Unternehmenspraxis
Abb.: Neurodivergenz: Beispiele aus der Unternehmenspraxis (Bild: eigene Darstellung) (wird bei Klick gross)
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